Hamburger Schulreform und die schulpolitische Evolution
Früher sprach man auch abschätzig von „Hamburger Verhältnissen“. Jetzt ist zwar alles ganz anderes gelagert, doch die Farce um die Hamburger Schulreform, die jetzt in einem Volksentscheid münden könnte, spricht für recht absurde „Hamburger Verhältnisse“. Dabei steht außer Frage, wer für das Scheitern der Verhandlungen um Refomierung des Schulsystems in der Hansestadt verantwortlich ist: Die Initiative „Wir wollen lernen“! Es sieht alles danach aus, als hätte sich diese Eltern-Initative nur zum Schein auf Verhandlungen mit dem Senat eingelassen und wollte von Anfang einen Volkentscheid erzwingen. Bitte schön.
Schulkampf bis zur Urne titelte die TAZ und druckt dazu ein erhellendes Interview mit Klaus Wenzel, dem Präsidenten des bayrischen Lehrerverbandes ab. Wenzel findet, dass man eine „schulpolitische Diskussion vermeiden und stattdessen eine pädagogische Diskussion führen“ sollte; er möchte, dass man heute damit beginnt, „eine schulpolitische Evolution vorzubereiten“.
Der besten Aufsatz, den es zu dem Thema zu geben scheint, findet sich auf Zeit Online von Reinhard Kahl. Sein Titel bringt es auf den Punkt: Schulstreit: Angst vor der Individualität in Hamburg.
Kahl erklärt in seinem Beitrag, was die Schulreform eigentlich soll:
Angst ist ein Feind des Lernens. Das gilt in der Politik wie im Klassenzimmer. Ein Motiv für die Einführung des „längeren gemeinsamen Lernens“ in Hamburg ist denn auch, Angst aus dem System zu nehmen. Angst lähmt. In der Schule führt sie dazu, dass man lieber intelligent guckt, als eine vermeintlich dumme Frage zu stellen. Oder nur für die Prüfung zu lernen. Dieses Pseudolernen nimmt zu, sobald die Kinder vor der Frage stehen: Schaffe ich es zum Gymnasium?
Und erkennt die Motive der Reformgegner nachweislich und erklärt, Individualisierung in der Schule sei keine „fixe, reformpädagogische Idee, sondern die Antwort auf eine veränderte Gesellschaft. Die Schulen hängen demgegenüber häufig noch tief im letzten und vorletzten Jahrhundert.“ Und weiter: „In den alten Normierungsanstalten waren eigensinnige Individuen nicht vorgesehen. Und auch heute noch wird Verschiedenheit oft als Störung, als Problem gesehen, über das Lehrer klagen und das Eltern Angst macht. Gerade diese Angst ist es, die viele Reformgegner dazu treibt, ihre kleinen Prinzen vor den Schmuddelkindern möglichst früh in einem Gymnasium in Sicherheit bringen zu wollen.“
Darüber sind sich viele Beobachter einig:
- Die Initaitve der Reformgegner war daran interessiert, die Verhandlungen scheitern zu lassen
- Die meisten Eltern haben wegen des gestrichenen „Elternwahlrechts“ für den Volksentscheid gestimmt
In vielen Bundesländern und in Europa ist die Primarschule bzw. das verlängerte gemeinsame Lernen längst eingeführt, da man weiß, dass es besser für die Kinder – und für die Gesellschaften! – ist. In Kanada lernen die Schüler sogar 12 Jahre zusammen.
Im Hamburger Schulstreit kann es noch zu einer Einigung, wie es sich andeutet, in der Sache kommen, wenn alle Fraktionen der Hamburger Bürgerschaft zusammen mit dem Senat eine vernünftige Lösung beschließen. Diese könnte noch im März erarbeitet werden. Dass es immer ein paar Unzufriedene geben wird, ist klar.
Bei Schalthoff Live auf Hamburg1 erfuhren wir gestern zum Thema einen interessanten Satz von Prof. Dr. Hans-Jörg Schmidt-Trenz von der Hamburger Handelskammer: „Die Wirtschaft ist darauf angewiesen die Begabungs-Reservern aller Schüler zu heben!“ Ein übler Satz, der mir Angst macht, Menschen, die so reden können machen mir Angst.
„Lernen in der Schule wurde bisher überwiegend als die passive Seite von Belehrung verstanden, nicht als konstruktive Leistung aktiver Individuen, von denen keines wie ein anderes tickt.“ Solche dagegen Sätz machen am Ende wieder Hoffung.
„Längeres gemeinsames Lernen folgt nicht nur dem Leitbild einer Gesellschaft mit mehr Zugehörigkeit und Vertrauen. Es verbessert die Lernergebnisse. Denn es ermöglicht Individuen das Wagnis, sich bewusst zu werden, Umwege zu gehen, aus Fehlern zu lernen, statt sie zu vertuschen“, so Kahl in seinem tollen Artikel.
Ein weiterer lesenswerter Artikel von Kahl heißt Schulreformen in Hamburg – Bildungspolitik als Kuhhandel.
Dagegensein reicht nicht, man muss auch sagen, wofür man ist. Da hat die Schulsenatorin Christa Goetsch recht. Und natürlich hat eine Reform niemals 100%ige Zustimmung. Das Elternwahlrecht wird jedenfalls nun doch nicht abgeschafft. Hier war der Protest mehr als berechtigt und fruchtbar.
Hier der2. Brief an die Hamburger Schulen von Christa Goetsch. Übrigens: Eine der ersten Hamburger Schulen in Hamburg, die die Primarschule umgesetzt haben, ist die Schule Rellinger Straße.
Foto Ausweg: Henry Herkula