Alle gegen alle: Warum sich streiten lohnt – und wie es besser geht

Buchcover: Alle gegen alle
Alle gegen alle

Streiten nervt. Aber schweigen ist keine Lösung. Die Comedienne und Psychologin Lara Ermer nimmt uns in Alle gegen alle mit auf eine überraschend unterhaltsame Reise durch die Psychologie des Konflikts – von kognitiver Dissonanz über Gruppenpolarisierung bis hin zu praktischen Tricks für das nächste Familienessen. Fundiert, frech und voller Erkenntnisse.

Wenn Streiten zur Wissenschaft wird

Lara Ermer hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Nicht, weil es die Welt rettet. Nicht, weil es alle Antworten liefert. Sondern weil es etwas schafft, das selten gelingt: Es macht wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich, ohne sie zu verharmlosen. Es ist unterhaltsam, ohne flach zu sein. Und es nimmt ein Thema ernst, das viele längst aufgegeben haben – die Frage, wie wir miteinander reden können, ohne uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

“Alle gegen alle” ist kein klassischer Ratgeber. Es ist eher eine gut gelaunte Bestandsaufnahme unserer Streitkultur, gespickt mit 245 psychologischen Studien, persönlichen Anekdoten und einer Prise Sarkasmus. Ermer, ausgebildete Psychologin und hauptberuflich auf Comedy-Bühnen unterwegs, bringt beides zusammen: die analytische Schärfe der Wissenschaft und die Leichtigkeit der Unterhaltung.

Warum wir überhaupt noch streiten sollten

Der erste Teil des Buches räumt mit einer weit verbreiteten Illusion auf: dass Harmonie das Ziel sei. Ermer argumentiert vehement dagegen. Streit sei nicht das Problem – im Gegenteil. Wer aufhört zu streiten, gibt demokratische Meinungsbildung auf. Die Autorin zitiert Studien, die zeigen: Unterdrückter Ärger schadet der Gesundheit, während konstruktive Konflikte sogar die Polarisierung senken können.

Besonders eindrücklich ist ihre Analyse des “Truthahneffekts”: In den USA dauerten Thanksgiving-Essen zwischen politisch unterschiedlich eingestellten Familienmitgliedern 2015 im Schnitt 30 bis 50 Minuten kürzer als bei politisch einigen Familien. 2016, im Trump-Wahlkampf, verdreifachte sich dieser Unterschied. 34 Millionen Stunden Familienzeit gingen verloren – wegen Meinungsverschiedenheiten.

Das ist nicht nur statistisch bemerkenswert. Es zeigt, wie tief politische Spaltung in den Alltag eindringt. Ermer macht klar: Wer diesen Konflikten ausweicht, lässt Gräben entstehen, die irgendwann unüberwindbar werden.

Was beim Streiten alles schiefgeht

Der Hauptteil des Buches ist eine Tour de Force durch die Psychologie des Scheiterns. Warum glauben wir Fakten nicht? Warum halten wir unsere Meinung für objektiver als die der anderen? Warum fühlen wir uns von Menschen bedroht, die anders denken?

Ermer erklärt den Confirmation Bias (wir nehmen Informationen wahr, die unser Weltbild bestätigen), die kognitive Dissonanz (wir verbiegen Fakten, um unser Selbstbild zu schützen) und den Better-Than-Average-Effekt (wir halten uns für klüger als den Durchschnitt). Sie zeigt, wie der Illusory-Truth-Effekt funktioniert: Informationen fühlen sich wahrer an, je öfter wir sie hören – selbst wenn sie falsch sind.

Besonders erhellend ist das Kapitel über Gruppendynamiken. Wir sortieren uns ständig in Ingroups und Outgroups ein – und bewerten Menschen anders, je nachdem, zu welcher Gruppe sie gehören. Der Black-Sheep-Effekt beschreibt, dass wir Mitglieder unserer eigenen Gruppe härter verurteilen, wenn sie gegen Gruppennormen verstoßen, als Außenstehende. Kollektiver Narzissmus lässt uns glauben, unsere Gruppe sei allen anderen überlegen.

Ermer bleibt dabei nie abstrakt. Sie erzählt von Schokoladenstudien (Menschen finden Schokolade schlechter, wenn die politische Gegenseite sie mag), von Sternzeichen-Gläubigen und von ihrer eigenen Unfähigkeit, trotz besseren Wissens dem Vollmond die Schuld an schlechtem Schlaf zu geben.

Die Triggerpunkte unserer Zeit

Im dritten Teil widmet sich Ermer den gesellschaftlichen Reizthemen: Gendern, Cancel Culture, Diversität, Generationenkonflikte. Sie nimmt jedes Thema ernst, ohne sich auf eine Seite zu schlagen.

Zur Debatte um geschlechtergerechte Sprache liefert sie Fakten: Gendersternchen stören den Lesefluss nicht, solange sie nicht im Singular verwendet werden. Sie erhöhen nachweislich die Sichtbarkeit von Frauen in Stellenanzeigen und senken Vorurteile. Gleichzeitig zeigt sie, dass das Sternchen oft gar nicht das eigentliche Problem ist – sondern die Angst vor Veränderung und der Verlust von Privilegien.

Beim Thema “Cancel Culture” räumt Ermer mit Mythen auf: Es gibt keine flächendeckende Zensur. Wer öffentlich problematische Dinge sagt, muss mit Gegenwind rechnen – das ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern deren Ausdruck. Gleichzeitig zeigt sie, dass öffentliche Empörung selten nachhaltige Konsequenzen hat. Louis C.K. stand ein Jahr nach seinem Eingeständnis sexueller Belästigung wieder auf der Bühne.

Wie Streiten besser gehen kann

Der letzte Teil ist der konstruktivste. Ermer liefert konkrete Strategien, wie Gespräche gelingen können:

Empfänglichkeit zeigen: Wer signalisiert, dass er lernen möchte, punktet – selbst wenn er eine andere Meinung vertritt. Vier einfache verbale Signale helfen: weiche Formulierungen verwenden, positive Sätze formulieren, Gemeinsamkeiten hervorheben, explizit Verständnis äußern.

Selbstwert stärken: Menschen sind offener für neue Informationen, wenn sie sich in ihrem Selbstwert bestätigt fühlen. Wer sich sicher fühlt, muss sein Weltbild nicht so vehement verteidigen.

Emotionen zulassen: Tone Policing – also das Abwerten von Argumenten, weil sie emotional vorgetragen werden – ist kontraproduktiv. Wut ist ein legitimes Signal für Ungerechtigkeit.

Nudging nutzen: Statt Menschen zu belehren, kann man Entscheidungsarchitekturen gestalten. Deskriptive Normen (“75 Prozent aller Gäste verwenden ihr Handtuch mehrfach”) wirken besser als Appelle.

Humor einsetzen: Politische Satire kann Menschen motivieren, sich zu engagieren. Sogar sexismuskritische Witze können feministisches Bewusstsein stärken.

Ermer bleibt realistisch. Nicht jedes Gespräch lohnt sich. Mit Menschen, die grundlegende demokratische Werte ablehnen, muss man nicht diskutieren. Aber für alle anderen gilt: Streiten kann funktionieren – wenn man weiß, wie.

Warum dieses Buch wichtig ist

“Alle gegen alle” ist kein Buch für Leute, die einfache Antworten suchen. Es ist ein Buch für alle, die verstehen wollen, warum Debatten so schwierig geworden sind – und was man dagegen tun kann.

Für Menschen, die unter politischen Diskussionen leiden, bietet es Erklärungen. Die eigene Erschöpfung ist keine persönliche Schwäche, sondern eine nachvollziehbare Reaktion auf reale Mechanismen.

Für Aktivisten und Engagierte liefert es Werkzeuge. Wie motiviere ich Menschen? Wie formuliere ich überzeugend? Wann lohnt sich radikaler Protest?

Für alle, die besser streiten wollen, ist es ein Leitfaden. Nicht im Sinne von “So gewinnst du jede Diskussion”, sondern: “So führst du Gespräche, die etwas bewirken.”

Das Besondere an Ermers Ansatz ist die Verbindung von Wissenschaft und Zugänglichkeit. Sie zitiert Hunderte Studien, ohne jemals trocken zu werden. Sie erklärt komplexe Zusammenhänge, ohne zu vereinfachen. Und sie bleibt persönlich, ohne narzisstisch zu werden.

Die Grenzen des Buchs

“Alle gegen alle” hat Schwächen. Manchmal verliert sich Ermer in Anekdoten, die zwar unterhaltsam sind, aber wenig zur Argumentation beitragen. Die Struktur ist nicht immer stringent – zwischen wissenschaftlichen Erklärungen und persönlichen Geschichten fehlt manchmal der rote Faden.

Außerdem: Wer konkrete Handlungsanleitungen erwartet, wird enttäuscht. Ermer liefert Erklärungen und Denkanstöße, aber keine Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Das ist gewollt – aber es bedeutet auch, dass Leserinnen und Leser selbst denken müssen.

Ein Buch für eine zerstrittene Zeit

Lara Ermer hat ein Buch geschrieben, das genau zur richtigen Zeit kommt. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend unversöhnlich anfühlt, bietet es weder naive Hoffnung noch zynische Resignation. Stattdessen zeigt es: Ja, Streiten ist anstrengend. Ja, es geht oft schief. Aber nein, die Lösung ist nicht, aufzuhören.

“Alle gegen alle” ist ein Plädoyer für Streitkultur. Nicht für harmonisches Miteinander, sondern für produktiven Konflikt. Für Auseinandersetzungen, die wehtun dürfen, aber weiterbringen. Für Debatten, die nicht in Rechthaberei enden, sondern in Erkenntnisgewinn.

Wer dieses Buch liest, wird danach nicht plötzlich perfekt streiten können. Aber man wird verstehen, warum es so schwer ist – und warum es sich trotzdem lohnt. Man wird Werkzeuge haben, um Gespräche anders zu führen. Und man wird hoffentlich den Mut finden, nicht aufzugeben.

Denn am Ende gilt: Schweigen ist bequem. Streiten ist mühsam. Aber nur wer streitet, kann etwas verändern.


Alle gegen alle: Was die Psychologie über Political Correctness, Verschwörungstheorien und andere Triggerpunkte weiß

Autorin: Lara Ermer
Format: Taschenbuch
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum: 2025
Seitenzahl: ca. 250 Seiten
Genre: Sachbuch, Psychologie, Gesellschaft, Kommunikation
Themen: Streitkultur, Polarisierung, Psychologie des Konflikts, Debattenkultur, konstruktive Kommunikation, politische Psychologie, Gruppendynamiken
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