Buchvorstellung: Die wahre Geschichte der Germanen – jenseits von Mythos und völkischer Ideologie

Buchcover: Die wahre Geschichte der Germanen
Die wahre Geschichte der Germanen

Wenn es um unsere Vorfahren, die Germanen geht, herrscht ein heilloses Durcheinander. Mythen, Vorurteile, Wunschvorstellungen, Heldenverehrung. Ein Abgleich mit der Realität findet nicht statt. Laien können das auch nicht, sie sind vollgestopft mit heldenbilder der Nazis, Fernsehserien oder dem erhaltenen Brauchtum, das sie gar nicht so richtig zuordnen können.

Also: Wer waren die Germanen wirklich? Diese Frage hat über Jahrhunderte Mythen genährt, Ideologien gestützt und Geschichtsbilder verzerrt. Karl Banghard, Prähistoriker und Leiter des Archäologischen Freilichtmuseums Oerlinghausen, wagt sich mit „Die wahre Geschichte der Germanen“ an ein schwieriges Terrain. Er erzählt von Mobilität statt Sesshaftigkeit, von Vielfalt statt Einheitsbild, vom Alltag jenseits von Blut und Schlachten.

Archäologie gegen Geschichtsklischees

Banghard kennt die Fallstricke. Noch immer haftet der Germanen-Forschung die Last der NS-Zeit an, als aus ein paar Pfostenlöchern stolze „Ahnenstätten“ gezimmert wurden. Bis heute erscheinen in Oerlinghausen Besucher mit Erwartungen, die eher von TV-Serien wie „Vikings“ geprägt sind als von archäologischen Fakten. Genau hier setzt das Buch an: Banghard will ein Gegenbild liefern, kein Vakuum hinterlassen.

Er konzentriert sich auf Fundstücke und deren Geschichten: von Kalkriese, wo die Varusschlacht bis heute neu gedeutet wird, über dänische Gräber, die Ärztinnen zeigen, bis hin zu Mooropferplätzen und Langhäusern. Auch genetische Analysen und archäobotanische Funde fließen ein – ein Streifzug, der den Germanen ihre Menschlichkeit zurückgibt.

Ein Roadmovie durch Europa

Der Verlag wirbt mit dem Bild eines „Roadmovies“. Und tatsächlich: Banghard schreibt flott, mit Lust an Wortspielen und Überraschungen. „Varusgate“ oder „das G-Wort“ lockern den Ton auf, Kapitel beginnen mit Aha-Effekten und enden oft pointiert. Manche Passagen sind frech formuliert, etwa wenn Arminius „eine aufs Maul gegeben hätte“, wäre er als „erster Deutscher“ bezeichnet worden. Diese sprachliche Frische macht das Buch unterhaltsam, manchmal wirkt sie aber auch ein wenig forciert.

Kritik und Selbstkritik

Bemerkenswert ist Banghards Offenheit: Er gesteht im Vorwort selbst ein, komplexe Fragen „glattgebügelt“ zu haben und bittet Fachkollegen um „nachsichtige Lektüre“. Das klingt bescheiden, wird aber von Rezensenten wie Uwe Ebbinghaus auch als Schwäche gewertet. Der Untertitel „Die wahre Geschichte“ wirkt da fast wie ein Widerspruch zum Selbstzweifel des Autors.

Doch inhaltlich ist das Buch stark: Es bietet eine fundierte, zugängliche Einführung in die Welt der Germanen, ohne Monumentalbauten und Schlachtenmythos, dafür mit Alltagskultur, Handwerk, Medizin und Religion. Wer ein identitäres Heldenepos sucht, wird enttäuscht. Wer aber bereit ist, sich auf mobile, anpassungsfähige und vielfältige Germanen einzulassen, gewinnt neue Perspektiven.

Für wen ist das Buch geeignet?

Trotz seines lockeren Stils ist das Buch nicht voraussetzungslos. Ganz ohne Vorwissen wird man manchen Befund oder archäologischen Kontext nur schwer einordnen können. Für historisch Interessierte aber, die sich nicht von akademischen Fußnoten erschlagen lassen wollen, ist Banghards Erzählweise ideal. Besonders gelungen sind die fotografischen Einlagen, die rekonstruierte Szenen zeigen – ein Gegenbild zu martialischen Vorstellungen.

Überschrift zum Mitnehmen

“Die Germanen waren keine Helden aus Marmor, sondern Menschen aus Fleisch, Erde und Bewegung.”

Banghard hat ein lebendiges, manchmal überdrehtes, aber stets faktenbasiertes Buch geschrieben. Es nimmt dem Begriff „Germanen“ seine ideologische Schwere und zeigt eine bunte, mobile, anpassungsfähige Lebenswelt. Wer das Buch liest, blickt nicht mehr auf die „Ur-Deutschen“ – sondern auf Menschen, die in der europäischen Geschichte beweglicher, vielfältiger und überraschender waren, als viele lange glaubten.

Die wahre Geschichte der Germanen

von Karl Banghard
272 Seiten, Propyläen Verlag (2025)
ISBN 3549100906
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Karl Banghard, Jahrgang 1966, ist Prähistoriker und seit vielen Jahren Direktor des Archäologischen Freilichtmuseums Oerlinghausen im Teutoburger Wald. Er kennt die Fallstricke im Umgang mit der germanischen Vergangenheit, deren Bilder von der NS-Zeit stark belastet sind. Mit praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Neugier möchte er helfen, die Germanen aus der ideologischen Schmuddelecke zu befreien und ihre Lebenswelt neu zu erzählen.

Leseprobe Die wahre Geschichte der Germanen

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